Thema: Am Ende der Straße

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Mi**** (abgemeldet) (24) aus

schrieb :

#1

Staub. 

Staub auf den Füßen, Staub zwischen den Zehen, Staub auf den Beinen, zwischen den Beinen. 

Ich renne. 

Staub in der Lunge, im Hals, im Mund. 

Ich keuche. 

Staub am ganzen Körper, auf der Kleidung und unter der Kleidung, in den Haaren und zwischen den Zähnen. 

 

Es hat schon einen Grund, dass wir sie Estrada poeirenta nennen, die Straße vor unserem Haus. 

Sie ist nicht nur ein Weg für mich, sie ist zugleich auch mein Schlaf-, Ess- und Arbeitsplatz. Hier spielt sich mein ganzes derzeitiges Leben ab. Von unserem Haus ist nämlich nur noch eine Wellblechplatte, die bedeckt mit einer Staubschicht am Boden liegt, übrig geblieben. 

Aber die Straße, die nennen wir trotzdem noch die Straße vor unserem Haus.

 

Ein paar Meter weiter, ich weiß nicht, wie viele, aber mehr als fünfzig, bleibe ich vor Cristinas Zuhause stehen. Ich spucke auf den Boden. Staubgrauer Speichel. Cristina schiebt eine Wellblechplatte zur Seite und kommt durch den Spalt aus der in den Hang gebauten Hütte nach draußen. Wir laufen zu zweit weiter, wir laufen zur Arbeit. 

Irgendwann, nach ich-weiß-nicht-wie-vielen Metern, so weit kann, glaube ich, nicht einmal Joao zählen, wird Estrada poeirenta breiter. Man sieht keine Hütten mehr, sondern Zäune, dahinter Gärten und Häuser, so groß, dass alle Leute aus meiner Gegend darin Platz gehabt hätten. 

Dort, zwischen den Villen und Parks, wo die Leute in langen Hosen und Hemden herumgehen, ist Cristinas und mein Arbeitsplatz. Wir tanzen, und die Leute geben uns Geld dafür. Ziemlich viel sogar. Das liegt daran, dass wir unsere Arbeit so gut machen. Wir haben jahrelange Erfahrung. 

 

Wir tanzen so lange, bis es gerade noch so hell ist, dass man ein Geldstück auf dem staubigen Boden sehen kann. Dann werfen wir alles verdiente Geld auf die Straße und teilen es in zwei Teile. Jeder gleich viel. 

Danach müssen wir nach Hause. Wir rennen um unser Leben, weil man bei Nacht nicht im Reichenviertel und mit Geld in der Hand nicht in der Favela gesehen werden darf. Sonst kann es vorkommen, dass man ermordet wird. Das sagt zumindest Joao. 

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Mi**** (abgemeldet) (24)

schrieb :

#5

Eine Woche vergeht, eine zweite. Joao ist nicht zurückgekommen. 

Ich habe die Hoffnung, ihn wiederzusehen, längst aufgegeben. Leute verschwinden. Das kommt eben vor. 

Rafaella ist auch nie zurückgekommen, Noite Fria auch nicht. Der Sohn von Mama Gabriella ist seit zwei Jahren verschwunden, und sie hat sich damit abgefunden. Genau so, denke ich, werde ich mich auch damit abfinden, dass Joao weg ist. 

 

Ich werde von einem Geräusch geweckt. Es ist fast vollkommen finster. Trotzdem erkenne ich, wie zwei Gestalten sich bewegen, das sind Mama Souza und Oma Arrantes. Mama Souza sitzt aufrecht, Oma Arrantes liegt auf der Seite, sie deutet irgendetwas mit den Händen. Jetzt richtet auch sie sich auf, rückt näher an Mama Souza heran. Die beiden streiten zweifellos, sie flüstern, aber sie gestikulieren aufgeregt. Ich halte den Atem an und lausche angestrengt. Ich kann nicht alles verstehen, aber ein paar Wörter. Wörter wie "Lastwagen" und "gefährlich" und "besseres Leben". Das reicht, um zu wissen, worüber die beiden reden. Was sie vorhaben. Und ich will das nicht! Auf keinen Fall! 

"Nein, Mama Souza!", ich will schreien, aber es wird nur ein verzweifeltes, stimmloses Kreischen daraus. Auf allen Vieren krieche ich auf die beiden zu. Sie starren mich an. "Nein!" krächze ich noch einmal, "bitte nicht weggehen!". 

Mama Souza sagt nichts, sie schaut mich nur aus großen, leeren Augen an. Ganz langsam lässt sie ihren Körper nach vorne fallen, bis ihr Gesicht auf der Straße liegt. Ich schaue Oma Arrantes an. "Nicht weggehen, Oma Arrantes!". - "Ich gehe nicht weg", antwortet sie leise. 

"Mama Souza darf auch nicht weg!", schluchze ich. 

"Deine Mutter erwartet ein Kind", sagt Oma Arrantes ganz ruhig, "und sie will es nicht auf der staubigen Straße zur Welt bringen". 

Einen Moment schweigt sie, als müsse sie überlegen. 

Dann sagt sie ernst: "Das Kind soll eine Zukunft haben! Eine richtige, gute Zukunft!". Ich schluchze panisch und schlage mit den Händen auf den Boden. "Und was ist mit MEINER Zukunft?", brülle ich, "mit meiner und der von Mio Irmao und der von Cha con Acucar?"

 

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Mi**** (abgemeldet) (24)

schrieb :

#4

Als es dunkel wird, gehen wir schlafen. Die Sterne sind aufgegangen, die Nacht ist klar und kühl. Mama Silva gibt uns vor dem Einschlafen allen einen Kuss, zuerst Cha con Acucar, dann mir, dann Mio Irmao. Und am Ende Oma Arrantes. Oma Arrantes lächelt müde. Wie immer. 

Irgendwann mitten in der Nacht wache ich auf. Mio Irmao liegt neben mir. Ich bin verwirrt. Es ist so finster. Ich drehe mich auf den Rücken und legen den Kopf auf Mio Irmaos Bauch. Er rührt sich nicht. 

 

Wenn man Estrade poeirenta verlässt und hinter unserem Haus den Hang hinaufläuft, zwischen den Hütten durch, und dann noch eine kurze, gerade Straße entlang, dann kommt man zu einem weißen Gebäude. Es ist längst nicht so groß wie die Häuser am Arbeitsplatz, aber viel, viel größer als die Hütten entlang der Estrada. Und außerdem ist es weiß. "Amerikanische Schule" steht darauf, aber das ist eigentlich egal. Das wichtige steht klein darunter: "Für eine aussichtsvolle Zukunft". 

 

Heute war ein guter Tag. Ich laufe wie noch nie. Je besser der Tag war, desto schneller muss ich laufen. Je mehr ich verdient habe, desto mehr kann man mir wegnehmen. Daheim gebe ich das Geld Oma Arrantes. Sie steckt den großen Teil davon in einen Fetzen gewickelt unter das Tuch, das sie auf dem Kopf trägt. Den Rest vergräbt sie unter der Wellblechplatte. Für die aussichtsvolle Zukunft. Mama Souza macht das nicht. 

 

 

 

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Mi**** (abgemeldet) (24)

schrieb :

#3

Zitat von: xAaliyah

Wow, du kannst echt gut schreiben! :-o

Danke!!! www

 

Daheim gebe ich mein Geld meistens Oma Arrantes, oder, wenn die nicht da ist, notfalls auch Mama Souza. Spätestens am nächsten Morgen bekomme ich es wieder zurück, um essen zu kaufen. 

Es ist jeden Tag dasselbe: Aufstehen, essen kaufen, essen, arbeiten, schlafen. Mit dem Kopf auf dem Bauch von Mio Irmao. Das ist das beste am ganzen Tag. 

 

Estrada poeirenta ist länger, als man an einem Tag laufen kann. Joao sagt, Estrada poeirenta entlang läuft man nur einmal. Ich weiß nicht, was er damit meint. Ich weiß auch nicht, was am anderen Ende ist. Am Ende der Straße. 

Ich sitze am Boden neben unserer Wellblechplatte und male mit dem Finger Muster in den Staub. Auf einmal will ich es unbedingt wissen. Jetzt. Obwohl es doch eigentlich egal ist. Weil es ja weit, weit weg ist, weiter als man an einem Tag laufen kann. Und was so weit weg ist, das habe ich längst gelernt, das ist nicht wichtig für mein Leben. Für mein Leben ist es wichtig, zu schlafen und zu essen und Geld zu verdienen, genug Geld für fünf Leute. 

Aber ich will es trotzdem wissen. Ich muss Joao fragen, jetzt gleich. Ich springe auf und laufe die Straße ein kleines Stück hinauf, bis dorthin, wo Joao meistens ist. Er schläft draußen auf dem Boden, genau wie wir. 

Aber Joao ist nicht da. Die Sonne ist schon untergegangen. Am Abend ist die Luft so grau wie die staubige Straße. Ich renne überall hin, wo Joao sein könnte, wo er jemals war. Aber ich finde ihn nicht. 

Ich gehe wieder heim, langsam. Mama Souza sitzt auf dem Boden und spielt mit den Haaren von Cha con Acucar. Ich bleibe vor ihr stehen. "Mama Souza", sage ich, "Joao ist verschwunden". 

"Sowas kommt vor", antwortet sie. 

Ich nicke, setzte mich auf den Boden und zeichne Muster in den Staub. Mama Souza legt einen Arm um meine Schulter und drückt mich fest an ihre Brust. 

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xA**** (abgemeldet) (24)

schrieb :

#2

Wow, du kannst echt gut schreiben! :-o

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