Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer: Die "tödlichen Grenzen" Europas

von Britta Pawlak - 01.05.2015

Über 1.300 Menschen kamen im April auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer ums Leben. Immer wieder sterben tausende Afrikaner bei dem Versuch, der Not ihrer Heimat zu entfliehen und auf kleinen Booten ins reichere Europa zu gelangen. Die europäischen Länder haben sich in den vergangenen Jahren immer weiter nach außen abgeschottet und wollen keine afrikanischen Flüchtlinge aufnehmen, so dass die verzweifelten Menschen versuchen, heimlich nach Europa einzuwandern. Sie sind dabei auf kriminelle Schmuggler angewiesen und nehmen große Gefahren auf sich. Statt endlich zu handeln, nimmt die Europäische Union in Kauf, dass zahlreiche Menschen an ihren Grenzen sterben, um zu verhindern, dass mehr Flüchtlinge aus dem Süden einwandern - Kritiker sprechen von einer unmenschlichen, mörderischen Politik, die der Abschreckung dient. Was sind die Hintergründe?

Bootsflüchtlinge im Mittelmeer vor der italienischen Insel Lampedusa (Quelle: Vito Manzari, Martina Franca (TA)/ Flickr.com (CC BY 2.0))

Allein im April 2015 verunglückten auf dem Mittelmeer in kurzer Folge zwei Flüchtlingsschiffe aus Afrika und nach Schätzungen kamen dabei insgesamt über 1.300 Menschen ums Leben. An Bord befanden sich Männer, Frauen und Kinder, die sich auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer begaben, um die Grenzen Europas zu passieren.

Am 12. April kenterte ein Flüchtlingsboot mit etwa 550 Menschen an Bord auf der Überfahrt nach Italien vor der Küste Libyens. 144 von ihnen konnten von der italienischen Küstenwache gerettet werden, die übrigen Flüchtlinge ertranken oder starben an Unterkühlung. Die größte Schiffskatastrophe, die sich jemals auf dem Mittelmeer ereignet hat, geschah wenige Tage später in der Nacht vom 18. auf den 19. April. Ein Flüchtlingsboot mit mehr als 700 Menschen an Bord kenterte zwischen Libyen und der italienischen Insel Lampedusa, nur 28 von ihnen konnten gerettet werden.

Es sind insbesondere Afrikaner, teilweise aber auch Menschen aus Asien und dem Nahen Osten, die vor Hunger, Armut, Gewalt und Krieg aus ihrer Heimat fliehen und den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer auf sich nehmen, um heimlich ins reichere Europa zu gelangen - man spricht auch von "illegaler Migration", also unerlaubter Einwanderung. Denn auch wenn sie sich in Europa ein besseres Leben erhoffen, sind sie in den europäischen Staaten alles andere als willkommen. Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl oder Amnesty International machen immer wieder auf die "unmenschliche Flüchtlingspolitik Europas" aufmerksam und kritisieren scharf, dass es ihr hauptsächlich darum geht, sich dem Schutz vor Flüchtlingen zu widmen, nicht aber dem Schutz von diesen.

Abschottung Europas fördert das Geschäft der Schleuser

Ein kleines Flüchtlingsboot erreicht die Mittelmeerküste vor Griechenland. (Quelle: Courtesy of Hellenic Coast Guard/ Flickr.com (CC BY-NC 2.0) )

Nach der schweren Katastrophe wird erneut heftig über die Flüchtlingspolitik Europas diskutiert und die Vertreter des Bündnisses der Europäischen Union (kurz EU) trafen sich kürzlich auf einem Sondergipfel zu diesem Thema. Zwar zeigten sich die Politiker in Deutschland und den anderen Ländern der EU bestürzt über das Flüchtlingsdrama, bisher wurde jedoch vor allem über die kriminellen "Schlepperbanden" diskutiert, denen man das Handwerk legen müsse.

Diese Menschenschmuggler, die auch "Schleuser" oder "Schlepper" genannt werden, bieten Flüchtlingen gegen viel Geld an, sie heimlich über die Grenzen nach Europa zu bringen. Kritisiert wird, dass die europäischen Politiker mit der Debatte über die Schlepper vom eigentlichen Kern des Flüchtlingsproblems ablenken, welches sie gerne auf das kriminelle Geschäft der Menschenschmuggler beschränken. So wurde auf dem EU-Gipfel der sehr umstrittene Vorschlag gemacht, militärisch gegen die Schlepperbanden vorzugehen und deren Boote zu zerstören.

Es ist richtig, dass die Schleuserbanden Geschäfte mit der Not der flüchtenden Menschen machen und das letzte Hab und Gut von diesen fordern, um sie unter widrigen Bedingungen auf kleinen, nicht unbedingt seetauglichen Booten auf die gefährliche Reise zu schicken. Es geht ihnen in erster Linie um ihr Geschäft, weniger um das Wohl der Flüchtlinge - wenn sie erst einmal ihr Geld erhalten haben, ist es ihnen häufig egal, was mit den flüchtenden Menschen geschieht. Andererseits ist es die Flüchtlingspolitik der EU, die ihre Grenzen nach außen dicht macht und verzweifelten Migranten und Flüchtlingen keine Zuflucht gewährt, die das kriminelle Geschäft der Schlepper überhaupt ermöglicht. Die europäischen Staaten wollen die Einwanderung der Not leidenden Menschen aus den armen Ländern des Südens möglichst verhindern und haben sich immer stärker abgeschottet, so dass schon seit Jahren von der "Festung Europa" gesprochen wird.

Keine Seenotrettung für Flüchtlinge

Ein Seenotrettungsschiff nähert sich einem Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer. (Quelle: Noborder Network/ Flickr.com (CC BY 2.0))

Immer mehr Menschen fordern, dass Europa sich um die Rettung der in Not geratenden Flüchtlinge - auch auf hoher See - einsetzt. Nachdem im Herbst 2013 vor der Küste der Insel Lampedusa etwa 400 Flüchtlinge ertrunken waren, sprachen die EU-Politiker von einer "Wende in der Flüchtlingspolitik" und beteuerten, sich zukünftig mehr für den Schutz der fliehenden Menschen einzusetzen. Italien startete ein Programm zur Seenotrettung mit dem Namen "Mare Nostrum": Die italienische Marine bewachte auch weiter von der Küste entfernte Seegebiete und setzte spezielle Patroullieboote zur Rettung in Not geratener Flüchtlinge ein. Dank dieses Programms konnten im Mittelmeer zehntausende Menschen auf der Flucht vor dem Ertrinken gerettet werden.

Doch die anderen Länder der EU waren nicht bereit, sich an den Kosten für das Rettungsprogramm zu beteiligen und so wurde "Mare Nostrum" nicht weitergeführt. Einige Politiker wie der deutsche Innenminister Thomas de Maizière argumentieren sogar damit, dass das Rettungsprogramm die Menschen zur Flucht verleiten würde. So muss man sich fragen, ob die Europäische Union tatsächlich bewusst den Tod tausender Menschen in Kauf nehmen will, um Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa abzuschrecken. Im Herbst 2014 wurde eine neue Mission mit dem Namen "Triton" gestartet, die unter der Führung der europäischen Grenzschutzagentur "Frontex" steht. Anders als bei "Mare Nostrum" geht es bei der Mission nicht in erster Linie um die Rettung von Menschenleben, sondern um die Sicherung der europäischen Grenzen - es soll also verhindert werden, dass Flüchtlingsboote nach Europa gelangen.

Immer mehr Kritiker und Politiker der Opposition - also der nicht regierenden Parteien - wie die Linkspartei drängen darauf, dass das Seenotrettungsprogramm wieder aufgenommen wird. Gregor Gysi, Franktionschef der Linken, forderte, die Politik solle "endlich lernen, nicht Flüchtlinge, sondern Fluchtursachen zu bekämpfen".

Eine unmenschliche Flüchtlingspolitik

Menschen demonstrieren gegen die deutsche und europäische Abschiebepraxis. (Quelle: Marek Peters)

Viele Kritiker der europäischen Flüchtlingspolitik fordern vor allem, dass die Länder Europas viel mehr Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Armut aus ihren Heimatländern fliehen, Schutz bieten, ihre Einwanderung also gesetzlich erlauben und ihnen Zuflucht gewähren sollten. "Asyl" bedeutet die (vorübergehende) Aufnahme eines Flüchtlings in einem anderen Land, das diesem Schutz bieten soll.

Jedoch wurden die Regelungen zum Asylrecht in Deutschland und Europa immer weiter eingeschränkt und allgemein haben nur solche Flüchtlinge überhaupt eine Chance auf Asyl, die als "politisch verfolgt" gelten - das heißt, dass sie wegen ihrer Herkunft, Nationalität, Hautfarbe, Religion, politischen Einstellung oder Meinung in ihrem Land verfolgt werden. Auch vor militärischen Konflikten und Bürgerkriegen Flüchtende können einen Antrag auf Asyl stellen, nicht jedoch Menschen, die aufgrund von wirtschaftlicher Not, Klimakatastrophen, Armut und Hunger aus ihrer Heimat fliehen. Relativ viele Flüchtlinge aus den ärmeren Ländern Afrikas nimmt Italien auf, während andere europäischen Staaten sich bisher größtenteils weigern, den flüchtenden Menschen aus dem Süden Zuflucht zu gewähren. Aufgrund ihrer geographischen Lage an der Mittelmeerküste im Süden Europas sind neben Italien auch Spanien und Griechenland stark von der (illegalen) Einwanderung aus dem ärmeren Süden betroffen.

Die Gesetze zur Flüchtlings- und Asylpolitik tragen zu der ungleichen Verteilung bei und verhindern, dass viele fliehende Menschen überhaupt die Chance haben, einen Antrag auf Asyl zu stellen: So können Flüchtlinge nur dann Asyl in Europa beantragen, wenn sie bereits europäisches Land betreten haben. Da zahlreiche Menschen schon auf dem Weg nach Europa von der Grenzsicherung abgefangen und zurückgeschickt werden, haben sie keine Chance auf Asyl. Außerdem können die Menschen nur in dem europäischen Land einen Antrag stellen, das sie zuerst betreten haben - reisen sie in andere Länder weiter, können sie wieder dorthin abgeschoben werden. Da Spanien, Italien und Griechenland von Nordafrika aus über dem Seeweg die nächstgelegenen europäischen Länder sind, erreichen die Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer zunächst deren Grenzen. Somit halten sich die nord- und mitteleuropäischen Staaten wie Deutschland weitgehend aus dem Problem heraus und sind nicht bereit, mehr Flüchtlinge aus dem Süden aufzunehmen.

Flucht vor Krieg, Terror und Armut

Eine vor der Hungerkatastrophe in Somalia flüchtende Frau mit ihren Kindern in einem Flüchtlingscamp in Kenia (Quelle: Oxfam East Africa/ Flickr.com (CC BY 2.0))

Insbesondere aus den von Krieg, Gewalt, wirtschaftlicher Not und Hunger betroffenen Ländern Afrikas versuchen unzählige Menschen zu flüchten. Sie entfliehen beispielsweise der Armut, Unterdrückung und Gewalt in Äthiopien, Eritrea, Gambia und Somalia, dem Bürgerkrieg in Syrien oder dem islamistischen Terror in Nigeria - und geraten häufig von einer Hölle in die nächste. So flüchteten innerhalb der vergangenen Wochen viele der aus Somalia nach Jemen geflohenen Menschen zurück in die Not ihres Heimatlandes, um dem im Jemen herrschenden Krieg zwischen den Rebellen und den arabischen Staaten unter der Führung Saudi Arabiens zu entkommen.

Die meisten afrikanischen Flüchtlinge und Migranten suchen in anderen afrikanischen Ländern Zuflucht, besonders viele Menschen fliehen nach Südafrika und sind dort alles andere als willkommen. Ein verhältnismäßig kleiner Teil der afrikanischen Flüchtlinge, oft sind es besser ausgebildete Menschen, versucht, über die Grenzen nach Europa zu gelangen. Sie nehmen nicht nur eine teure und lebensgefährliche Flucht auf sich und begeben sich in die Hände zweifelhafter Schlepperbanden. Wenn sie es tatsächlich bis zur Grenze schaffen, werden sie häufig sofort wieder abgeschoben. Andere führen ein hartes Leben in "Illegalität", sie sind also gesetzeswidrig und heimlich im Land, haben weder eine Arbeitserlaubnis oder Kranken- und Sozialversicherung noch Familie, Freunde und Unterstützung.

Und selbst wenn sie sich als Flüchtlinge (vorübergehend) in dem reicheren europäischen Staat aufhalten dürfen, leben sie in der ständigen Angst, wieder abgeschoben zu werden, finden oft keine Arbeit, wohnen notdürftig in einfachen, armen Verhältnissen in Flüchtlingsunterkünften und sind den Anfeindungen der Menschen im Land ausgeliefert. So argumentieren viele einheimische Menschen, die Flüchtlinge und Migranten würden ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen oder dem Staat "auf der Tasche liegen" und ihre Kultur "überfremden". Viele Einwohner Europas befürchten gar eine Massenflucht aus Afrika, wenn mehr Flüchtlinge aufgenommen würden, und behaupten, dass die Flüchtlingsströme unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand gefährden.

Die Mitschuld Europas an der Armut in Afrika

Zahlreichen afrikanischen Fischern wird ihre Lebensgrundlage entzogen, weil die europäischen Staaten immer mehr Rechte zum Fischfang vor den Küsten Afrikas eingekauft haben und die dortigen Meere regelrecht leer fischen. Bild: Fischer aus Senegal (Quelle: Isidore BOULLU/ Creative Commons (CC BY-SA 2.0 FR))

Das Schlimme ist zudem, dass die europäischen Länder einen erheblichen Teil der Verantwortung für die Armut und Perspektivlosigkeit in den afrikanischen Ländern tragen, welche tausende Afrikaner zur Flucht aus ihrer Heimat zwingen. Diese so genannten "Elends-" und "Wirtschaftsflüchtlinge" haben von vorneherein keinen Anspruch auf Asyl. So treibt die Europäische Union durch ihre Handels- und Wirtschaftspolitik jene afrikanischen Länder weiter in die Armut, welche besonders stark von Fluchtbewegungen aufgrund von Wirtschaftskrisen betroffen sind.

Beispielsweise hat die EU immer mehr Rechte zum Fischfang vor den afrikanischen Küsten eingekauft und fischt die Meere dort geradezu leer, während die einheimischen Fischer kaum noch Erträge machen und zahlreichen Menschen damit ihre Lebensgrundlage entzogen wird. Allein mit den Ländern Westafrikas hat die Europäische Union sieben Verträge zum Fischfang-Recht geschlossen - so viele wie mit keiner anderen Region weltweit. Die Ressourcen Afrikas werden von Europa weiter ausgebeutet und der afrikanischen Bevölkerung kommen die von der EU vorangetriebenen Handelsverträge in keinster Weise zugute - im Gegenteil.

Weiterhin treibt die EU immer mehr Abkommen zum "Freihandel" mit afrikanischen Staaten voran, um ihre günstig produzierten Waren unbegrenzt in Afrika auf den Markt zu bringen, ohne dafür etwa "Zölle" bezahlen zu müssen. Solche Zölle, die ein Land normalerweise für die Einfuhr seiner Waren in einen anderen Staat zahlen muss, sollen dafür sorgen, dass die eigene Wirtschaft in dem jeweiligen Staat geschützt wird. Genau das verhindern die von der EU geschlossenen Abkommen jedoch: So will die Europäische Union die billigen Lebensmittel(-Reste) aus ihrer Überproduktion - wie Fleisch aus Massentierhaltung oder Gemüse und Getreide aus Massenherstellung - in afrikanischen Ländern verkaufen, ohne dafür Zölle zu zahlen. Damit macht sie den afrikanischen Bauern Konkurrenz - und das, obwohl kein anderer Kontinent wirtschaftlich so abhängig von den Einkünften aus der Landwirtschaft ist wie Afrika. Die einheimische Landwirtschaft kann mit den günstigen Preisen aus der europäischen Massenproduktion nicht mithalten und wird zugrunde gerichtet.

Und dies sind nur einige Beispiele, die verdeutlichen, dass im Zuge der Globalisierung die auf den eigenen Vorteil bedachte Politik Europas einen erheblichen Anteil an der Armut und wirtschaftlichen Not der afrikanischen Länder hat und dazu beiträgt, dass sich die Kluft zwischen dem armen Süden (Afrika) und dem reicheren Norden (Europa) weiter vergrößert.

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letzte Aktualisierung: 03.05.2015

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