Die Einsamkeit der Kinder-Flüchtlinge

von Lara Nina Weber - 21.06.2006

Jedes Jahr flüchten nach Schätzungen von Menschenrechts-Organisationen zwischen 5.000 und 10.000 Kinder und Jugendliche ohne ihre Eltern aus anderen Staaten nach Deutschland. Viele von ihnen lassen sich nicht registrieren und tauchen unter, weil sie Angst haben, dass sie sonst abgeschoben werden. In ihren Heimatländern herrschen oft Kriege und Hungersnöte. Helles Köpfchen sprach mit Ernst-Ludwig Iskenius vom Bundesverband für minderjährige Flüchtlinge.


Ernst-Ludwig Iskenius setzt sich für Kinder und Jugendliche ein, die ganz alleine, ohne ihre Eltern nach Deutschland geflüchtet sind. (Quelle: IPPNW)

Helles Köpfchen: Warum flüchten so viele Kinder und Jugendliche ohne Begleitung nach Deutschland? Obwohl sie hier niemanden kennen, sie die Sprache nicht beherrschen und sie sich furchtbar einsam und verloren fühlen müssen?
Ernst-Ludwig Iskenius: Das ist nicht leicht zu beantworten. Einige Flüchtlinge sind Waisen. Das bedeutet, dass ihre Eltern umgekommen sind. Oft haben sie als Straßenkinder in großen Städten ihres Heimatlandes gelebt. Manchmal werden minderjährige Flüchtlinge auch von ihren Familien, ihrem Dorf oder ihrem Stamm hierher geschickt.

HK: Wie können die eigenen Familien den Kindern so etwas antun?
Iskenius: Weil sie eine falsche Vorstellung davon haben, wie das Leben hier ist. Sie haben die Hoffnung, dass die Kinder ihnen etwas zurückbringen, das ihnen das Leben erleichtert. Oder sie glauben sogar, dass ihre Kinder hier ein besseres Leben haben werden. Dass dies meist falsch ist, wissen sie nicht. Manchmal sind die Familien auch durch Krieg, Gewalt, Not oder Aids auseinander gebrochen. Freiwillig kommen die Kinder nie, meist sind viele Nöte zusammen gekommen.

HK: Woher weiß man, was mit einem Kind passiert ist, das sich ohne Begleitung bis nach Deutschland durchgeschlagen hat?
Iskenius: Man muss versuchen, den Lebenslauf der Kinder und Jugendlichen zu ergründen. Aber das ist sehr schwierig, weil so genannte Schlepper, die die minderjährigen Flüchtlinge für viel Geld auf verbotenen Wegen hierher gebracht haben, ihnen vorgefertigte Lügen eingebläut haben. Die jungen Flüchtlinge sind meist sehr ängstlich und misstrauisch - sogar den Menschen gegenüber, die ihnen helfen wollen.

HK: Werden alle jugendlichen Flüchtlinge von Schlepperbanden heimlich über die Grenzen nach Deutschland gebracht?
Iskenius: Das passiert sehr oft. Leider bedeutet dies aber, dass ihr neues Leben im Zufluchtsland scheitern wird. Wegen der eingetrichterten Lügen hat das Asylverfahren oft keine Chance. Asylverfahren bedeutet, dass die Flüchtlinge offiziell als in ihrem Heimatland verfolgte Menschen anerkannt werden und dauerhaft hier bleiben dürfen. Dieses Asylverfahren überfordert jedoch viele Jugendliche. Sie fangen an, Drogen zu verkaufen. Vom dem Geld zahlen sie dann die Schulden ab, die sie für ihre Flucht machen mussten, um die Schlepper zu bezahlen.

HK: Gibt es wirklich keine Möglichkeit, solch kriminelle Karrieren zu verhindern?
Iskenius: Den Jugendlichen wird es einfach zu schwer gemacht. Wurden sie vorher noch in kind- und jugendgerechten Einrichtungen betreut, müssen sie in eine normale Unterkunft für Asylbewerber umziehen, sobald sie 16 Jahre alt geworden sind. Dort wohnen sie dann mit den erwachsenen Asylbewerbern zusammen und bekommen keine gesonderte Betreuung mehr. Ihr Weg ist dann in der Regel schon vorprogrammiert. Übrigens kann es vorkommen, dass sogar jüngere Kinder in normale Unterkünfte eingewiesen werden. Sie haben keine Papiere, die belegen, dass sie eigentlich noch zu jung sind. Ihr Alter wird von den Behörden geschätzt.

HK: Gib es keine Wohnungen oder Einrichtungen, die speziell für die jungen Flüchtlinge zwischen 16 und 18 Jahren geeignet sind?
Iskenius: Doch, aber es gibt viel zu wenige davon, sodass kaum Jugendliche darin einen Platz bekommen. Wer das Glück hat, dort zu wohnen, der kann manchmal tatsächlich hier bleiben, eine Ausbildung machen und die schlimmen Erlebnisse aus seiner Vergangenheit aufarbeiten. Dadurch kann er sich dann auch integrieren - das heißt, ein Teil unserer Gesellschaft werden.

HK: Können sie an einem Beispiel erklären, was mit einem jugendlichen Flüchtling geschieht, der zu uns kommt?
Iskenius: Wir helfen derzeit einem minderjährigen, unbegleiteten Jungen, der vor drei Jahren, als damals 14-Jähriger, aus dem afrikanischen Staat Guinea gekommen ist. Wir haben versucht ihm zu helfen. Zunächst haben wir das Jugendamt eingeschaltet, dann haben wir einen erwachsenen Vormund für ihn gesucht, der ihn zum Beispiel bei einer Schule anmelden darf. Wir haben ihm einen Platz in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen besorgt. Dort war er allerdings auch deshalb überfordert, weil er kaum Deutsch konnte. Er bekam dann auch noch Streit mit einigen anderen Jugendlichen, die dort wohnten, und lief schließlich weg.

HK: Haben Sie danach wieder etwas von dem Jungen gehört?
Iskenius: Ja, er war drei Monate verschwunden, tauchte dann aber wieder auf. In der Zwischenzeit war sein Antrag auf Asyl abgelehnt worden. Er hat nie über seine Vergangenheit gesprochen und warum er hierher gekommen ist. Wenn man ihn darauf anspricht, schweigt er und blockt total ab.

HK: Hat er eine neue Wohnung gefunden, in der er bleiben konnte?
Iskenius: Ja, man hat ihm eine Wohnung besorgt, in der er auch betreut wurde. Er hat dort zusammen mit einem anderen jungen Flüchtling gewohnt, der etwas älter als er war. Dieser Mitbewohner ist ebenfalls als minderjähriger Flüchtling zu uns gekommen, aber er wurde in der Zwischenzeit volljährig. Die beiden waren wie zwei Brüder. Er ging dann in die Schule und stabilisierte sich, sprach aber weiterhin nie über seine Vergangenheit.

HK: Wie geht es dem Jungen jetzt?
Iskenius: Er trat in einen Fußballverein ein und ist dort ganz beliebt. Seine schulischen Leistungen sind allerdings nur mäßig, obwohl er Nachhilfe und Zusatz-Förderunterricht bekommt. Woran es genau liegt, kann ich nicht sagen.

HK: Trotzdem hört sich das alles nicht so schlecht an.
Iskenius: Ja, allerdings kam der große Einbruch, als sein "großer Bruder" in dessen Heimatland abgeschoben werden sollte. Deshalb kamen eines Nachts fünf Polizisten, die auch noch bewaffnet waren, in seine Wohnung, um nach seinem Freund zu suchen. Doch der war untergetaucht. Das hat ihn total fertig gemacht. Kurz darauf wurde er selber auch aufgefordert, aus Deutschland auszureisen. Und das, obwohl er erst 17 Jahre alt war und noch nicht volljährig. Weder die Behörden noch wir wussten, ob er noch eine Familie hat und - falls ja - wo diese lebt.

HK: Musste er tatsächlich Deutschland verlassen?
Iskenius: Es gab eine große Kampagne dagegen. Nun hat er wenigstens die Erlaubnis bekommen, bis zu seinem 18. Lebensjahr bleiben zu dürfen. Diese Erlebnisse haben ihn völlig aus der Bahn geworfen. Erst nach einem halben Jahr hat er sich gefangen und konnte wieder regelmäßig zur Schule gehen.

HK: Wie geht es ihm jetzt?
Iskenius: Zurzeit ganz gut. Wir versuchen jetzt, ein neues Asylverfahren für ihn durchzusetzen, damit er doch dauerhaft bleiben darf. Ob das gelingt, hängt auch davon ab, ob er sich endlich öffnet und von seiner Vergangenheit erzählt. Selbst Psychologen und andere Profis haben es bisher nicht geschafft, ihm auch nur ein einziges Wort über seine Vergangenheit zu entlocken.



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letzte Aktualisierung: 30.08.2009

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