Lexikon: Sozialstaat

Als Sozialstaat bezeichnet man einen Staat, der um soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit für alle seine Bürgerinnen und Bürger bemüht ist. Vereinfacht gesagt: ein solcher Staat betreibt Sozialpolitik. Der Begriff "sozial" kommt aus dem Lateinischen und heißt "gemeinsam", "verbunden". Es soll also niemand allein gelassen werden, wenn er durch schwierige Umstände in Not geraten ist. Das ist etwa der Fall, wenn jemand seine Arbeit verloren hat oder längere Zeit krank ist und deswegen kein eigenes Geld verdienen kann. Gleichzeitig soll der Staat dafür sorgen, dass bestimmte Notlagen möglichst gar nicht erst eintreten (z.B. durch Gesetze zum Kündigungsschutz).

Das Sozialstaats-Prinzip ist auch in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland verankert. Dort heißt es in Artikel 20: ″Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.″ Die Idee vom Sozialstaat ist schon sehr alt. Bereits in der Antike und im Mittelalter gab es vereinzelt Versuche von Seiten des Staates, die materielle Not der Bürger oder Untertanen zu lindern. Dahinter stand vor allem das Ziel, Unruhen und Aufstände zu verhindern. Auch der moderne Sozialstaatsgedanke geht auf solche Überlegungen zurück. Entwickelt hat sich der moderne Sozialstaat im 19. Jahrhundert. Mit der industriellen Revolution verarmten viele Menschen. Der damalige deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck war überzeugt, dass eine Kranken-und Unfallversicherung die Probleme der Fabrikarbeiter lindern und gleichzeitig eine neue Revolution unzufriedener Arbeiter verhindern könne.

Die Idee war einfach: Die Arbeiter sollten nach einem Unfall oder bei Krankheit eine Entschädigung erhalten. So würden ihre Familien nicht ins Elend gestürzt. Nach Bismarcks Willen sollten sich die Unternehmer an dieser Art der Versicherung beteiligen. Obwohl das eine finanzielle Belastung für die Fabrikanten bedeutete, fand der Plan Unterstützer, darunter den Bochumer Stahlfabrikanten Louis Baare. Er sah die Versicherung für die Arbeiter auch als Vorteil für sich. Sein Hauptargument: Eine wachsende Industrie-Gesellschaft braucht gesunde und zufriedene Arbeiter.

Es gab aber ebenso Gegner der Idee einer Sozialversicherung: Dass der Staat die sozialen Angelegenheiten der Gesellschaft ordnet, war im 19. Jahrhundert ja auch völlig neu. Vor allem die Liberalen stellten sich gegen eine staatliche Unterstützung. Sie plädieren für Freiheit und die Selbstständigkeit der Arbeiter, für ″Hilfe durch Selbsthilfe″. Einige Unternehmer befürchten Gewinneinbußen. Und die katholische Zentrumspartei kritisierte die staatliche Hilfe für die Arbeiter, weil sie ihrer Auffassung nach die christliche Pflicht zur tätigen Nächstenliebe unterhöhlt. Auch die Sozialdemokraten waren offiziell Gegner der Sozialversicherung, intern diskutieren sie jedoch intensiv über deren Wert.

Im Jahre 1883 gelang es Bismarck schließlich, die Krankenversicherung einzuführen. 1884 folgte die Unfallversicherung, und ab 1889 konnten die Arbeitnehmer sich erstmals gesetzlich gegen die Folgen von Alter und Arbeitsunfähigkeit absichern. Alle Arbeiter und Angestellten (bis zu einem Jahreseinkommen von 2.000 Reichsmark) wurden Pflichtmitglieder in der Krankenversicherung. Finanziert wurde sie über die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, wobei die Arbeitnehmer zwei Drittel und die Arbeitgeber ein Drittel des Gesamtbeitrages zahlen. Arbeiter ab dem 3. Krankheitstag bekamen Krankengeld gezahlt. Bis zu 26 Wochen lang erhielten sie 60% ihres eigentlichen Lohnes, also etwas mehr als die Hälfte. Außerdem hatten die Arbeitnehmer Anspruch auf kostenlose ärztliche Behandlung und Arznei. Bei einem Arbeitsunfall erhielt der Betroffene eine Unfallrente. Die Höhe war vom Verdienst abhängig. Finanziert wurde die Unfallversicherung allein durch Beiträge der Arbeitgeber. Ab dem 70. Lebensjahr wurde eine Altersrente gezahlt, wenn die Arbeiter mindestens 30 Jahre lang Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt haben. Wurde ein Versicherter vorher erwerbsunfähig, bekam er eine Invalidenrente, sofern die Erwerbsfähigkeit um zwei Drittel gemindert war und er mindestens fünf Jahre lang Beiträge geleistet hatte. Im Todesfall erhielten die Hinterbliebenen von der Kasse ein Sterbegeld.

Das Deutsche Kaiserreich war damit weltweit der Vorreiter beim Aufbau von staatlichen Sozialsystemen. Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung gelten bis heute als Kernelemente des modernen Sozialsystems und damit als Grundpfeiler des Sozialstaates. Im 20. Jahrhundert kamen dann weitere Sozialgesetze hinzu: 1912 gab es eine Sozialversicherung für Angestellte, 1927 trat die Arbeitslosenversicherung in Kraft. Als jüngster Zweig der deutschen Sozialversicherung wurde die soziale Pflegeversicherung ab 1994 stufenweise eingeführt.

Sozialstaat heißt aber nicht nur, dass Bedürftige finanzielle Leistungen vom Staat erhalten. Der Sozialstaat umfasst auch eine Reihe von Gesetzen, die die Bürger vor Notlagen und Ungerechtigkeiten schützen sollen. Außerdem gehören dazu wichtige Regeln, die dafür sorgen, dass alle Menschen in einem Land am kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Neben den Leistungen der Sozialversicherung sind das der Kündigungsschutz, kostenlose Bildungsangebote, Finanzierung von sozialen Projekten wie Beratungsstellen, Suchthilfe und Jugendarbeit. Finanziert wird der Sozialstaat aus Steuern und Sozialabgaben.

Der Ausbau des Sozialstaates wird seit den 1980er Jahren zunehmend problematisch. Das liegt vor allem an der steigenden Arbeitslosigkeit. Sie verursacht hohe Kosten durch die Zahlung von Arbeitslosengeld und Umschulungen. Das Geld fehlt an anderer Stelle. Außerdem sinken bei hoher Arbeitslosigkeit die Einnahmen durch die Sozialversicherungsbeiträge. Auch die demografische Entwicklung bereitet Probleme: In Deutschland leben immer mehr alte Menschen, die Renten beziehen. Andererseits gibt es immer weniger Junge, die in die Rentenversicherung einzahlen. Auch die härtere internationale Konkurrenz durch die Globalisierung verschärft den Druck auf Wirtschaft und Politik, im Inland Sozialleistungen und Arbeitskosten zu senken. Das soll Arbeitsplätze in Deutschland erhalten und deren Verlagerung ins Ausland bremsen.

In den vergangenen Jahren ist daher ein massiver Abbau von einst errungenen Sozialleistungen zu erkennen. Diese Reduzierung bisher gewährter Sozialleistungen nennt man ″Sozialabbau″. Die jeweiligen Bundesregierungen sprechen in diesem Zusammenhang meist von unvermeidlichen ″Reformen″.

Einen ganz markanten Sozialabbau bildet nach Ansicht vieler Sozialexperten die "Agenda 2010" der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Schröder. Sie hat die Lage vieler Menschen in Deutschland verschlechtert: Hartz IV (die Zusammenlegung von Arbeitslosen-und Sozialhilfe) und die Gesundheitsreformen (steigende Krankenversicherungsbeiträge und eine Praxisgebühr) haben die Bürger finanziell schwer belastet. Löhne, Renten und Sozialleistungen verloren und verlieren an Kaufkraft, weil die Mehrwertsteuer erhöht wurde. Dagegen steigen die Gewinne der großen Unternehmen stetig. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Inzwischen leben jeder 8. Erwachsene und jedes 6. Kind in Deutschland in Armut.

Gewerkschaften, Sozialverbände, Kirchen, Organisationen wie Attac und linke Parteien laufen dagegen Sturm. Sie argumentieren, dass durch Sozialabbau die soziale Sicherheit abnimmt und soziale Ungleichheit wächst. Sie schlagen vor, nicht die Ausgaben des Staates zu vermindern, sondern durch eine gerechtere Steuerpolitik die Einnahmen wieder zu erhöhen. Dazu sollen Maßnahmen wie die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine "Reichensteuer", Erbschaftssteuer oder Steuern auf Flugbenzin dienen. Außerdem sei es Zeit, einen gesetzlichen Mindestlohn und eine Bürgerversicherung einzuführen.

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letzte Aktualisierung: 08.11.2014

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