31.07.2012
Zurzeit wird über die Themen Beschneidung und Religionsfreiheit in Deutschland diskutiert. Es geht um die Frage, ob muslimische und jüdische Eltern ihre Söhne aufgrund von religiösen Traditionen beschneiden lassen dürfen oder nicht. Kürzlich hat ein deutsches Gericht entschieden, dass die Beschneidung eines Kindes ohne medizinischen Grund "Körperverletzung" sei. Was bedeutet eine Beschneidung eigentlich für das Kind und was sind die Probleme dabei? Warum begrüßen einige Menschen das Urteil, während andere empört über die Entscheidung der Richter sind?
In Deutschland ist die "freie Religionsausübung" im Grundgesetz verankert. Das bedeutet, dass Menschen unterschiedlicher Religionen die Möglichkeit haben müssen, nach den Regeln und Traditionen ihres Glaubens zu leben. Dürfen Eltern ihr Kind aber aufgrund religiöser Überzeugungen beschneiden lassen? Darüber gehen die Meinungen der gläubigen Juden und Muslime, Politiker, Menschenrechtler, Ärzte und vieler anderer Menschen auseinander.
Bei einer Beschneidung wird Jungen die Vorhaut am Penis (teilweise) entfernt. Eine Beschneidung ist eine Operation, die im Normalfall unter Betäubung von einem Arzt durchgeführt wird. Es gibt verschiedene Gründe für einen solchen Eingriff. Es kann zum Beispiel vorkommen, dass die Vorhaut zu eng ist und sich nicht richtig zurückziehen lässt. Dann können sich Jungen dort nicht ausreichend waschen oder die Vorhaut kann sich entzünden und große Schmerzen verursachen. In einem solchen Fall spricht man von einer Beschneidung aus medizinischen Gründen.
In manchen Religionen wie im Islam und Judentum werden kleine Jungen auch ohne medizinische Gründe beschnitten. Es ist in der Religion ihrer Eltern ein Jahrtausende alter Brauch. Bei dem aktuellen Streit geht es um diese Form der Beschneidung "aus religiösen Gründen". Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahre 2007 sind rund 30 Prozent der Männer weltweit beschnitten. Die meisten von ihnen leben in den USA sowie im Nahen und Fernen Osten.
Beschneidung aus religiösen Gründen
Bei den Juden gilt die Beschneidung als ein sichtbares Zeichen für die Zugehörigkeit zum Judentum. In der jüdischen Religion gilt jeder als Jude, der eine jüdische Mutter hat. Aber erst durch die Beschneidung wird der Junge in den "Bund Gottes mit Abraham" aufgenommen. Im Alten Testament, dem ersten Teil der Bibel, der die Zeit vor der Geburt von Jesus umfasst, hatte Gott Abraham befohlen, sich und seine Nachkommen zu beschneiden, was Abraham auch tat. Seitdem gilt die Beschneidung auch als Symbol dafür, dass der Bund mit Gott fortgeführt oder erneuert wird.
Nach dem Talmud, dem jüdischen Religionsbuch, ist ein Jude erst "wahrhaftig", wenn er beschnitten wird. Im jüdischen Glauben heißt Beschneidung "Brit Mila" oder auch "Berit Mila" (das kommt aus dem Hebräischen: "Berith" heißt Bund und "Mila" Beschneidung). Sie findet in der Regel bereits am achten Lebenstag des Jungen und ohne Betäubung statt. Falls das Baby schwach oder kränklich ist, wird sie verschoben - ein jüdischer Junge soll jedoch vor seinem 13. Geburtstag beschnitten worden sein. Es ist Tradition, dass die Beschneidung vom "Mohel" durchgeführt wird. Der Mohel ist ein extra dafür ausgebildeter Fachmann, meistens ein Arzt. Erst nach der Beschneidung erhält der Junge offiziell seinen Namen. Vorher geben die Eltern den Namen des Kindes noch nicht bekannt.
Im Islam wird die Beschneidung von Jungen sehr empfohlen. Sie bestimmt aber nicht über die Zugehörigkeit zum islamischen Glauben. Auch ist für die Beschneidung kein bestimmtes Datum festgesetzt. Allerdings soll nicht am achten Tag beschnitten werden, um sich von der jüdischen Religion abzusetzen. Meist wird die Beschneidung im Säuglingsalter oder in den ersten Lebensjahren vollzogen. Mit der Beschneidung wird in der Regel ein großes Fest verbunden. Die Jungen sind an diesem Tag wie kleine Prinzen gekleidet und bekommen viele Süßigkeiten und Geschenke.
Wie kam es zu dem Urteil?
Am 4. November 2010 wurde in einer Kölner Arztpraxis ein vierjähriger muslimischer Junge beschnitten. Der Arzt stammt ursprünglich aus Syrien und ist selbst Muslim. Beschneidungen hatte er schon Hunderte durchgeführt, bisher gab es dabei keine Probleme. Auch diesmal dauerte die Operation nur etwa eine halbe Stunde, Kind und Mutter konnten noch am gleichen Tag wieder nach Hause. Zwei Tage nach dem Eingriff fing die Wunde des Jungen aber stark zu bluten an und er hatte große Schmerzen. In der Notaufnahme der Uniklinik musste er noch einmal operiert werden, um die Blutung zu stillen. Die Ärzte informierten Polizei und Staatsanwaltschaft und der Fall kam vor Gericht. Die Richter sollten prüfen, ob der Arzt bei der Beschneidung alles richtig gemacht hat.
Sowohl das Amtsgericht als auch das Landgericht Köln konnten dem Arzt keinen Fehler nachweisen. Er habe "einwandfrei und nach allen Regeln der ärztlichen Kunst" gehandelt, schreiben sie in ihrem Urteil. Nachblutungen könnten bei jeder Operation auftreten. Der Arzt wurde freigesprochen. Aber die Richter am Landgericht, dem nächsthöheren Gericht, werteten die Beschneidung in ihrem Urteil vom Juni 2012 auch als Körperverletzung. Sie sind der Ansicht, dass der Körper eines Kindes ohne medizinischen Grund nicht verletzt werden dürfe. Das gelte selbst dann, wenn die Eltern zugestimmt hätten. Die entscheidende Frage bei dem Urteil: Was ist wichtiger, das Recht von Mutter und Vater auf Erziehung und Religionsfreiheit oder das Wohl des Kindes und sein Recht auf Selbstbestimmung.
Die Richter kamen zu dem Schluss, dass das Recht des Jungen, nicht verletzt zu werden, wichtiger sei als das Recht seiner Eltern, die Beschneidung aus religiösen Gründen durchzuführen. Das Gericht führte an, dass eine Beschneidung den Körper eines Kindes "dauerhaft und irreparabel" (also endgültig) verändert. Es ist somit eine Operation, deren Folgen das restliche Leben bestimmen, da die Beschneidung nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Die Richter wollten die Beschneidung nicht völlig verbieten, sondern schlugen vor, dass muslimische und jüdische Eltern mit der Beschneidung so lange warten könnten, bis ihr Sohn alt genug ist, um selbst darüber zu entscheiden.
Entsetzen bei vielen Juden und Muslimen
In Deutschland leben etwa vier Millionen Muslime und rund 120.000 Juden. Viele von ihnen hat das Urteil der Kölner Richter entsetzt. Sie fordern, dass Beschneidungen von Kindern auch in Zukunft erlaubt sein sollten, ohne dass man sich strafbar macht. Sie sind der Ansicht, dass sie bei einem Verbot der Beschneidung ihre Religion nicht mehr richtig ausüben könnten. Die Rabbiner (jüdische Religionslehrer) in Deutschland weisen darauf hin, dass die Beschneidung ein 4.000 Jahre alter Brauch ist, ohne den es für die Juden keine Zukunft in Deutschland geben könne. Ein Großteil der Juden müsste dann auswandern, sagen die Rabbiner.
Ähnlich argumentiert der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann. Er meint, die Beschneidung neugeborener Jungen sei fester Bestandteil der jüdischen Religion. Den Vorschlag, Jungen später zu beschneiden, lehnt er ab. Er ist der Meinung, dass über die Beschneidung "normale" und nicht-jüdische Menschen überhaupt nicht entscheiden könnten. "Da müsste man schon mit dem lieben Gott verhandeln", sagt Graumann. Auch der Islamrat, eine große Organisation der Muslime in Deutschland, sieht das Urteil aus Köln kritisch. Es stürze gläubige Muslime in einen Gewissenskonflikt, sagen die Vertreter des Islamrates. Das wichtigste Argument der Kritiker eines Verbotes ist aber die deutsche Verfassung. Im Artikel 4, Absatz 2 steht: "Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet". Dazu gehört für viele Juden und Muslime die Beschneidung. Würde sie verboten, so wäre nach Meinung vieler die Religionsfreiheit eingeschränkt.
Jubel über das Urteil
Es gibt aber auch Juden und Muslime, die das Kölner Urteil richtig finden, und zwar in allen Teilen der Welt. So haben in der US-amerikanischen Großstadt New York einige jüdische Männer demonstriert, um ihre Sympathie mit den Kölner Richtern auszudrücken. Sie trugen T-Shirts mit dem Aufdruck "I love foreskin" (übersetzt: "ich liebe/ ich mag die Vorhaut"). Die Männer sind gegen die Beschneidung, die sie selbst erfahren haben. Sie sagen, der Eingriff habe ihr ganzes Leben negativ beeinflusst, aber als Babys hätten sie sich nicht dagegen wehren können.
Auch in Israel, dem Land, in dem weltweit die meisten Juden leben, sehen immer mehr Menschen die Beschneidung kritisch. Vor allem Mütter wollen ihren Söhnen die damit verbundenen Schmerzen ersparen. Organisationen gegen Beschneidung haben großen Zulauf, etwa die Vereinigung "Juden gegen Beschneidung". Den Hinweis, Beschneidung sei eine Voraussetzung, um zum Judentum zu gehören, lassen die Mitglieder nicht gelten. Für sie steht fest: Man ist Jude, wenn die Mutter jüdisch ist. Mit der Entfernung der Vorhaut habe das nichts zu tun. In Israel gibt es daher schon seit langem eine Ersatzzeremonie für die "Brit Mila". Sie wird "Brit Shalom" genannt - das heißt so viel wie "friedliche Verbindung mit Gott". Dabei erhält der Junge offiziell seinen Namen, ohne beschnitten zu werden.
Auch in Großbritannien gibt es einige jüdische Gemeinden, wo die Bescheidung nur noch symbolisch, aber nicht in der Realität vollzogen wird. Das heißt, sie wird zwar gefeiert, die eigentliche Operation wird aber auf später vertagt.
Körperverletzung oder Religionsfreiheit?
In Deutschland gibt es bis heute kein eindeutiges Gesetz, das die religiöse Beschneidung regelt. Beschneidungen werden durchgeführt und gebilligt. Der heftige Streit, der jetzt geführt wird, hat aber gezeigt, dass eine Regelung getroffen werden sollte. Bundeskanzlerin Merkel, die selbst Christin ist, hat in dieser Frage eine klare Position: Sie will erreichen, dass religiöse Beschneidungen von Jungen in Deutschland "legalisiert", also gesetzlich erlaubt, werden. Möglichst schon im Herbst dieses Jahres soll es dazu ein Gesetz geben. "Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation", soll Angela Merkel in einer Sitzung gesagt haben.
Im Bundestag wird darüber viel gestritten. Das Parlament hat schließlich eine "Resolution" beschlossen. Darin haben alle Parteien - bis auf die Linke, ein Teil der Grünen sowie einige SPD-Abgeordnete - ihre Absicht erklärt, die männliche Beschneidung aus religiösen Gründen durch ein Gesetz möglichst noch im Herbst straffrei zu stellen. Voraussetzung soll sein, dass den Eingriff ein ausgebildeter Arzt fachgerecht vornimmt. Einige Politiker meinen hingegen, man könne so eine wichtige Frage nicht übereilt entscheiden. Bis zum Herbst bleibe viel zu wenig Zeit, um sich angemessen mit dem Thema zu befassen. Auch Kinderschutzorganisationen sowie viele Ärzte und Juristen sind klar gegen gesetzlich erlaubte Beschneidungen. Für sie sind Beschneidungen "eine Form der Verstümmelung". Zahlreiche Ärzte sind gegen diesen Eingriff, weil bei einem Baby das Herz bei einer Beschneidung rast, es vor Schmerzen schreit und großen Stress erlebt. Außerdem schmerze die Wunde, wenn die Betäubung nachlässt, noch tagelang.
Der Arzt und Psychotherapeut Matthias Franz hat nun einen offenen Brief an die Bundesregierung und den Bundestag gerichtet, den 600 bekannte Ärzte und Wissenschaftler unterschrieben haben. Sie fordern darin von den Politikern, keine vorschnellen Beschlüsse zur Beschneidung von Jungen zu fassen. Für die Unterzeichner steht fest, dass eine Beschneidung immer ein Trauma ist, also eine schwere und folgenreiche Verletzung. In dem Brief heißt es wörtlich: "Genitale Beschneidung fügt kleinen Jungen erhebliches Leid zu." Jüdisches und islamisches Leben in Deutschland müsse zwar geschützt werden, aber das Wohl des Kindes stehe an erster Stelle. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidtbauer sagte: "Kein nachdenklicher und einfühlender Mensch wird es billigen, dass Säuglingen ein Teil ihres Körpers weggeschnitten wird."
Andere Kritiker verweisen auf das Grundgesetz oder Strafrecht. Diese Gesetze seien für alle in Deutschland lebenden Menschen bindend und keiner genieße Sonderrechte. Auch in anderen Ländern kämpfen Mediziner gegen diesen Jahrtausende alten Brauch. Der schwedische Kinderärzteverband fordert ein gesetzliches Verbot von nicht-therapeutischen Beschneidungen. Auch in den Niederlanden ist der Ärzteverband gegen diese religiöse Praxis.
Auch eine philosophische Frage
Kritiker sind vor allem der Ansicht, dass ein Verbot des Beschneidungsrituals nicht gegen die Religionsfreiheit verstoße. Denn niemand dürfe seine Religion so ausüben, dass die körperliche und seelische Unversehrtheit einer anderen Person verletzt werde - auch das steht im Grundgesetz geschrieben. Das gelte natürlich auch für die Eltern eines kleinen Jungen.
Die aktuelle Debatte wirft darüber hinaus Fragen auf, die nicht nur das Thema "Beschneidung" angehen. Diese Fragen sind auch philosophischer Art und betreffen alle Religionen, nicht nur die jüdische oder muslimische: Dürfen oder sollen Religionen mit der Zeit gehen? Müssen religiöse Bräuche modernisiert werden? Ist ein Brauch schützenswert und richtig, nur weil er schon tausende Jahre lang praktiziert wird? Und sollte es nicht erlaubt sein, Prinzipien und Traditionen zu hinterfragen?
In der Geschichte hat sich schließlich gezeigt, dass bestehende Regeln und Überzeugungen immer wieder kritisch betrachtet, neu überdacht und auch fallengelassen wurden - ebenso religiöse Bräuche und Vorschriften, die mittlerweile als unmenschlich, unmoralisch oder grausam angesehen werden. Wäre dies nicht so, würden diese Traditionen heute noch vorherrschen.
Hinweis zum Copyright: Die private Nutzung unserer Webseite und Texte ist kostenlos. Schulen und Lehrkräfte benötigen eine Lizenz. Weitere Informationen zur SCHUL-LIZENZ finden Sie hier.
Wenn dir ein Fehler im Artikel auffällt, schreib' uns eine E-Mail an redaktion@helles-koepfchen.de. Hat dir der Artikel gefallen? Unten kannst du eine Bewertung abgeben.